Die Schuldfrage

Ich bin erschüttert, zu welchen Diskussionen die Krise im Nahen Osten führt und wie Menschen plötzlich total verbohrt werden. Jeder weiß am Besten, wer an der ganzen Sache schuld ist, und natürlich sind das immer die anderen. Die Israelfreundlichen schimpfen auf Hisbollah und Libanesen, Syrien und den Iran. Die anderen sehen die Schuld allein bei den Israelis, was zu bizzarren Auswüchsen führt. So wurde mir gestern, als ich an der Uni das Wort Israel benutzte, entrüstet gesagt, ich solle dieses böse Wort nicht in den Mund nehmen. Eine andere Person meinte sogar, die Hisbollah sei überhaupt nicht so schlimm und das Vorgehen gegen sie daher unberechtigt.

Aber die Hisbollah tötet Menschen. Sie tötet Israelis und sie tut das, weil fundamentalistisches, islamistisches Gedankengut sie davon überzeugt. Das ist Unrecht.
Israel tötet auch Menschen. Sie tötet Hisbollah-Angehörige und unbeteiligte libanesische Zivilisten. Das ist auch Unrecht und grenzt an Staatsterror.
Das eine Unrecht macht das andere Unrecht weder ungeschehen, noch rechtfertigt es dieses.

Ähnlich läßt sich auch die Schuldfrage entgegen der Meinung vieler nicht eindeutig beantworten, auch wenn das natürlich viel einfacher wäre:

  • Die Israelis sind schuld. Denn sie bomben den Libanon nieder, töten unschuldige Zivilisten und geben dabei vor, sich nur selbst zu verteidigen.
  • Die Hisbollah ist schuld. Denn sie greifen ständig im Grenzgebiet zu Israel unschuldige Israelis an und bringen sie um. Noch dazu sitzen ihre Vertreter in der libanesischen Regierung.
  • Die libanesische Regierung ist schuld. Sie hat es versäumt, nach der Räumung der besetzten Gebiete die Hisbollah zu entwaffnen und die Kontrolle über den ganzen Libanon zu gewinnen.
  • Die Israelis sind schuld. Denn sie beharren fanatisch auf ihrem Land und den Grenzen von 1948.
  • Die arabische Welt ist schuld. Sie erkennt die Grenzen und die Souveränität des Staates Israel nicht an und versucht mit Gewalt, Israel zu vernichten.
  • Die Israelis sind schuld. Sie haben zu oft nachgegeben und die ständigen Rückzieher und Gefangenenaustausche wurden von den Palästinensern und Arabern als Schwäche ausgelegt.
  • Die Engländer bzw. Europa ist schuld. Sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Juden einen Staat gegeben und dabei das Land den vorherigen Bewohnern weggenommen.
  • Die Welt ist schuld. Denn sie schaut nur zu.
  • Das Öl ist schuld. Denn es verhindert klare politische Stellungnahmen aus wirtschaftlichen Gründen.
  • Der Fundamentalismus ist schuld. Denn auf beiden Seiten regiert religiöser Fanatismus.

Es sollte deutlich geworden sein, das die Frage nach der Schuld niemals eine befriedigende Antwort geben kann. Außerdem führt sie zu nichts. Denn die Frage nach der Schuld nimmt das Problem in den Blick, und nicht die Lösung. Auch wenn im Alltag das Finden der Ursache meist auch zum Finden der Lösung führt, funktioniert das in diesem Fall nicht. Denn es handelt sich hier nicht um ein Auto, bei dem die Batterie kaputt ist und ersetzt werden muss. Es geht hier um Menschen, um Gefühle und Verletzungen, um Stolz, Religion und um das nackte Überleben.

Solange sich alle stets gegenseitig die Schuld zuschieben, wird es keinen Frieden geben. Versöhnung kann nur dann geschehen, wenn man die eigene Schuld erkennt und auch bekennt.

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