Stuttgart 21 und der Niedergang der goldenen Regel

Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!
Matthäus 7,12

Was hat die sogenannte goldene Regel mit dem Streit um Stuttgart 21 zu tun? Wer lange genug in den Foren der Gegner und Befürworter unterwegs ist, wird feststellen: viel. Denn je aufgeladener die Stimmung wird, je schneller widersprüchliche Pressemeldungen die Runde machen, um so unreflektierter geht es zum Teil auf beiden Seiten zu.

Das spannendste daran ist, wie ähnliche Strukturen und Handlungsweisen der eigenen und der gegnerischen Seite jeweils bewertet werden. Und meist stehen die sich in nichts nach – was jedoch selbstverständlich vehement bestritten wird.

Beispiele:

  • Wenn auf der Gegnerseite ein erfrischend amateurhaftes Werbevideo für die Großdemonstration mit der unglücklichen Formulierung endet, dass jemand „Zäune umschmeißen“ will, dann wird das auf Gegnerseite höchstens halbherzig kritisiert. Während die Befürworter wegen diesem Aufruf zur Sachbeschädigung nach Staatsanwaltschaft und Anzeige brüllen, sieht die Gegenseite darin einen Spaß und verharmlost die Sache.
  • Umgekehrt wird jedoch von den Gegnern nach Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz gerufen, wenn auf Facebook Gruppen auftauchen, die z.B. ein „Wegspritzen“ der „Hippies“ fordern (meines Erachtens übrigens ebenfalls daneben). Die Befürworter finden den Wunsch nach hartem Durchgreifen bzw. köperlicher Züchtigung der Demonstranten aber gut, solche Witze lustig, verharmlosen ihrerseits und pochen auf die freie Meinungsäußerung.
  • Wenn am Bauzaun Plakate der Befürworter abgerissen werden, dann ist das aus Sicht der Gegner legitim. Abreißen von gegnerischen Plakaten durch Befürworter ist jedoch eine Straftat und Vandalismus. Umgekehrt gilt das natürlich auch. Schließlich gehört der Bauzaun immer dem, der gerade davor steht.
  • Könnte es auf Demonstrationen Ärger geben, wird jeder Demonstrant dazu aufgerufen alles zu filmen um im Zweifelsfall Beweise für Provokation durch Befürworter/Polizei etc. zu haben. Die Videos werden danach veröffentlich, gesammelt und z.B. an die Presse weitergegeben. In einzelnen Fällen wird auch betroffenen Personen empfohlen, direkt Anzeige zu erstatten. Die Befürworter unterstellen dabei natürlich, dass die Videos zum Teil geschnitten sind und so nur ein unvollständiges Bild ergeben.
  • Wenn nun Befürworter eine Demo filmen wollen, weil Sie Straftaten erwarten (siehe oben), dann betonen die Gegner ihr Recht am Bild bzw. bezeichnen solche Menschen als Denunzianten und ziehen Vergleiche mit früheren politischen Regimes. Der Vorwurf der Manipulation gilt natürlich auch hier.

Die Liste ließe sich endlos weiterführen, es handelt sich dabei nur um die Eindrücke aus den letzten paar Tagen.
Aber die Beispiele zeigen, wie voreingenommen nahezu jeder ist, der sich mit diesem Konflikt auch nur ein bißchen beschäftigt (und ich nehme mich da selbst nicht aus). Vieles von dem, was in den Gruppen täglich abläuft, hat mit Vernunft und Selbstreflexion nicht mehr viel zu tun. Was zählt, ist die eigene Meinung und das Feindbild – nämlich die andere Meinung. Da die andere Meinung naturgemäßg falsch ist, ist sie (und zum Teil auch derjenige, der sie vertritt) weniger wert und darf herabgesetzt und beleidigt werden. Umgekehrt gilt das jedoch auf gar keinen Fall, und wer dies tut ist ein Troll (also ein absichtlicher Aufwiegler) oder dumm oder Faschist (oder alles drei zusammen).

Von der goldenen Regel und ihrer umgangssprachlichen Umwandlung „was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ sind wir also inzwischen meines Erachtens weit entfernt. Vielmehr wird grundsätzlich alttestamentlich argumentiert. Denn wann immer ich solche Gedanken irgendwo poste, dann kommen sofort Aussagen wie, „Aber die haben…“, „Aber wer so etwas macht wie….“. Gleiches mit gleichem zu vergelten ist doch völlig legitim – und schon ist man von einem etwas unliebsamen Thema wieder weg.
Und im Zweifelsfall wird man halt blockiert, so wie es mir schon mehrfach passiert ist – auf beiden Seiten.

Verständnis wird immer nur für sich selbst gefordert, Verständnis für andere ist unerwünscht. Die goldene Regel allerdings macht deutlich, dass das eine ohne das andere nicht geht.

4 Gedanken zu „Stuttgart 21 und der Niedergang der goldenen Regel“

  1. Ja, recht hast du mit deiner Beobachtung, aber ich glaube das war mit der Goldenen Regel auch noch nie anders. Das hat doch Hübner immer schon in den Vorlesungen gesagt: „solche Regeln gibt es doch nur weil sich niemand dran hält!“
    Herzliche annonueme Grüße aus der Pfalz!

  2. Ob die Züge oben oder unten nun besser, schneller, stau-freier fahren, weiss ich beim besten Willen nicht. Aber wenn ich Gegner und Befürworter richtig verstandn habe, ist es inzwischen so, dass der Bahnhof Milliarden kostet, egal ob er gebaut wird oder nicht.
    Das hilft nun eher wenig bei der Entscheidung. Das scheint mir eher ein Stresstest für Logik und rationales Denken zu sein.

    Aber: Wenn es um den „Niedergang“ der Goldenen Regel geht, da wäre ich eindeutig für „oben bleiben!“

  3. Auch wenn ich Deinen Ansatz doch recht redlich finde, zumindest ein klein wenig Frieden durch Entschärfing zu stiften, kann ich Deine Veröffenltichung nicht unkommentiert lassen.
    An anderer, meines Wissens erheblich früheren Stelle heißt es, „Du sollst nicht stehlen.“, „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.“ und „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“.
    Selbstverständlich wurde irgendwann mal die „Auge-um-Auge-Regelung“ abgeschafft, um Sühne durch angemessene aber nicht barbarische Strafe zu erreichen. Und Rachsucht zählt, wie im übrigen die angesprochene Gier ja auch, zu den Todsünden. Und ich bin in keiner Weise mit dem aggressiven Verhalten der S21-Gegner einverstanden.
    Allerdings ist es in einem kaum erträglichen Maße hochmütig, maßloss und ignorant, was wiederum zu den Todsünden zu zählen ist, wie sich die S21-Befürworter in der Öffentlichkeit gebaren.
    Aber hey, jeder biegt sich seine Wahrheit so zurecht, wie sie gerade passt. Und darauf geh ich jetzt mal (im Geiste, viel zu kalt draußen…) zur Mahnwache.

  4. Allerdings ist es in einem kaum erträglichen Maße hochmütig, maßloss und ignorant, was wiederum zu den Todsünden zu zählen ist, wie sich die S21-Befürworter in der Öffentlichkeit gebaren.

    Genau darum ging es mir. Nicht um das Verhalten der Befürworter, sondern um genau solche Aussagen. Selbst wenn das so ist – was ich nicht bezweifle – „erlaubt“ das in keinster Weise, sich ebenso zu verhalten. Glaubst du denn wirklich, Hochmütigkeit, Ignoranz und Arroganz hätten die Befürworter für sich alleine gepachtet? Ich könnte dir Screenshots zeigen, was mir persönlich schon alles geschrieben wurde, das fändest du sicher genauso unerträglich.
    Aber so zu argumentieren hat keinen Sinn. Weil es genau das umkehrt, was ich sagen will: Nicht weil die anderen sich so verhalten, verhalte ich mich genauso. Sondern obwohl die anderen sich so verhalten, verhalte ich mich anders

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